«Sei kreativ» ist das Credo der künftigen Arbeitswelt – doch was bedeutet das überhaupt?

Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Automatisierung werden unsere Arbeitswelt in Zukunft gehörig umkrempeln. Da klingt das neue Credo der Kreativität vielversprechend – und doch birgt es Gefahren.

«Ein alter Menschheitstraum geht in Erfüllung: Roboter nehmen uns immer mehr Arbeit ab», hiess es im Abstimmungsbüchlein zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE), das die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer am vergangenen Wochenende noch für verfrüht, utopisch oder schlicht nicht finanzierbar erklärt haben. Breiter Konsens bestand im Zuge der vorgängigen Diskussionen jedoch darüber, dass Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz unsere Arbeitswelt in den kommenden Jahren gehörig umkrempeln werden.

 

Für die einen wirkt es bedrohlich, für die anderen verheissungsvoll: 48% der Stellen in der Schweiz könnten grundsätzlich durch Maschinen ersetzt werden, analysierte die Beratungsfirma Deloitte Ende 2015. «Mehr sinnvolle und selbstbestimmte Tätigkeiten sind möglich», schlossen die Initianten des BGE aus derlei Prognosen. Und die Berater von Deloitte hielten fest: «Der entscheidende Faktor ist, wie stark eine Beschäftigung auf Kreativität, soziale Interaktion oder besonderen Kundenservice setzt.» Wo es Einfällen und Empathie bedarf, bleibt weiterhin der Mensch gefragt.

 

Die Schweiz ist stolz auf ihren Erfindergeist und die Innovationskraft: Bei der Zahl der Patentanmeldungen belegt das Land regelmässig einen Spitzenplatz. Doch was bedeutet es eigentlich genau, kreativ zu sein? «Vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Globalisierung hat sich die Gewissheit verloren, wie ein Ziel erreicht werden kann», heisst es dazu bei der Zürcher Hochschule der Künste. Ihr neuer Weiterbildungsgang Creationship wendet sich an Personen aus Privatwirtschaft und Politik, Wissenschaft, Militär und Kirche: «Kreativität generiert sich aus dem, was sein könnte, aus dem potentiell und ungeahnt Möglichen». Auf der Basis vermeintlich unlösbarer Probleme neue Ideen zu kreieren, erfordert Fachwissen und vor allem eine bestimmte Einstellung: Offenheit für das Unerwartete, Freude am Experiment und Toleranz gegenüber dem Scheitern. In Zukunft müssen wir alle ein wenig die Haltung eines Künstlers einnehmen.

 

Stete Flexibilisierung der Wirtschaft

Tatsächlich hat die Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten Organisationsformen angenommen, die wir gemeinhin mit dem künstlerischen Dasein in Verbindung bringen. Seit den 1960er-Jahren verkörpert es das Ideal eines sinnerfüllten und unabhängigen Lebens – ganz im Gegensatz zum 8-to-5-Job mit seinen klaren Regeln und starren Hierarchien. Heute können sich 44,6% der Arbeitnehmenden in der Schweiz ihre Arbeitszeit frei einteilen, 36,7% arbeiten Teilzeit, rund ein Fünftel zumindest gelegentlich von zuhause aus. Die strukturierende Einheit ist das Projekt, und das Brainstorming Ausgangspunkt jeder Teamarbeit.

 

Im Zuge der globalen Arbeitsteilung hat sich der Westen auf Dienstleistungen und Wissensarbeit spezialisiert, auf die Entwicklung von Hard- und Software – und deren Vermarktung. Designer, Film-Produzenten, Grafiker oder PR-Agenten: Sie alle tragen dazu bei, einer relativ wohlhabenden und mit reichlich Freizeit gesegneten Gesellschaft den Konsum von Produkten und kulturellen Angeboten schmackhaft zu machen. Kreative Zugänge und ökonomische Grundsätze durchdringen sich – damit ist der Künstler auch zum Unternehmer geworden.

 

Vom Arbeitnehmer zum günstigen Zulieferer?

Beste Voraussetzungen also dafür, dass sich ein jeder nun selbst verwirklichen kann? Nicht unbedingt, meint Susanna Perin, Kunst- und Kulturschaffende und Geschäftsführerin von visarte.aargau, dem Berufsverband der visuellen Künste. Der Kulturbereich ist mit Herausforderungen konfrontiert, die symptomatisch für Entwicklungen in der Gesamtwirtschaft sind. «Ein Grossteil des Kultur-Budgets geht an die Infrastruktur und Digitalisierungsprojekte», beschreibt Perin die Situation. In der Förderung kultureller Leuchttürme im Kanton Aargau sieht sie ein Beispiel für die grundlegende Problematik: «Institutionen generieren keinen Inhalt.» Sie bieten den Raum – freie Musiker, Kunstschaffende, Performer das Programm.

     

Dasselbe Bild zeichnet sich in anderen Branchen ab: Unternehmen investieren in Algorithmen und Plattformen, die wenige Angestellte zentral unterhalten und viele externe Zulieferer speisen. Technologiekonzerne aus dem Silicon Valley wie Facebook, AirBnB oder Uber machen es vor. Aber auch Schweizer Unternehmen treiben die Entwicklung voran. Bei der ABB in Baden steuern Spezialisten softwarebasiert den Betrieb von Kupferminen in der ganzen Welt. Die Swisscom delegiert ihren Kundenservice an «Swisscom Friends» – Hilfesuchende finden Nutzer in ihrer Nähe für den technischen Support. Medienunternehmen setzen auf Leserreporter und Marktplätze zur Kompensation der eingebrochenen Aboerlöse.

 

Damit verändern sich auch die Erwerbsmodelle. Unternehmen sparen Geld, indem sie projektbezogene Arbeiten an externe Dienstleister vergeben und auf feste Arbeitsplätze für ihre heimarbeitenden, temporär oder Teilzeit Angestellten verzichten. Aus den USA schwappt der Begriff der «Gig Economy» nach Europa über: Freelancer holen sich Mini-Aufträge über Online-Plattformen wie Clickworker oder Upwork herein, bieten eigenes Handwerk auf Etsy oder Dawanda an und vermieten ihrer Bleibe in einkommensschwachen Zeiten auf AirBnB.

 

Neue Formen von Selbstständigkeit

Sich wie ein Musiker von Gig («Auftritt») zu Gig zu hangeln, verleiht ein Gefühl von Freiheit und Handlungsfähigkeit. Das ist verlockender als ein Leben geprägt von nervtötender Routinearbeit, einem autoritären Chef oder dem demütigen Gang zum Arbeitsamt. Doch abseits des Rampenlichts kennt jeder Künstler auch die Schattenseiten seines Berufes: tiefe Gagen, Versagensängste, und das stete Weibeln ums nächste Engagement. Ein garantiertes staatliches Grundeinkommen gibt es auch im Kulturbereich nicht.

 

Mit unsicheren Einkommen, befristeten Anstellungen und lückenhaften sozialen Sicherheiten sind indes längst nicht nur Künstler konfrontiert. Im Zuge der Wirtschaftskrise haben sich in vielen Ländern soziale Bewegungen gebildet, die eine mangelnde Umverteilung beklagten und vor einer Verarmung der Mittelschicht warnten. Die Schweiz steht im internationalen Vergleich besser da. Doch auch hierzulande machen sich gewisse Tendenzen bemerkbar. Eine Studie von Ecoplan aus dem Jahr 2013 zeigt, dass der Zuwachs an Praktikumsstellen für atypisch-prekäre Arbeitsverhältnisse sorgt: Zwischen 2004 und 2008 waren zwei Drittel (13'000) der neu geschaffenen, als «unerwünscht unsicher» bezeichneten Stellen Praktikumsplätze. Vor allem für Personen zwischen 25 und 40 Jahren mit Hochschulabschluss ist die Wahrscheinlichkeit einer befristeten Anstellung zu einem tiefen Lohn gestiegen, wie die Auswertung zeigt.

 

Eine Studie der ZHAW aus dem Jahr 2007 kommt ausserdem zum Schluss, dass unter Kulturschaffenden der Anteil von Selbstständigen viermal höher ist als in der Gesamtwirtschaft, Mehrfachbeschäftigungen doppelt so häufig vorkommen und befristete Anstellungen sogar siebenmal so oft. Verbunden damit sind häufig Einkommensschwankungen und mangelnde berufliche Vorsorge. Der Kreativwirtschaftsbericht 2016 zeigt, dass 96% der erfassten Unternehmen Micro-Betriebe sind, rund drei Viertel davon bestehend aus ein bis zwei Personen. Die Zahl der Beschäftigten und Betriebe in diesem Bereich wächst stärker als in der Gesamtwirtschaft. Künstlerisch-kreatives Denken spielt sich eben meist losgelöst von althergebrachten Strukturen ab.

 

Geist braucht Nahrung

Susanne Perin vom Berufsverband visarte fordert deshalb eine konsequente Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen von Kreativität. Themen wie soziale Sicherheit, Leitlinien für eine faire Vergütung von projektbezogenen Leistungen oder der Zugang zu günstigem Wohn- und Arbeitsraum erhalten Gültigkeit über den Kreis von Kulturschaffenden hinaus. Wer innovativ sein will, braucht ein Netzwerk, Startkapital, und die Fähigkeit, sich selbst zu vermarkten.

 

Die Grenzen zwischen Kunst, Kultur, Marktwirtschaft und Wissenschaft lösen sich auf. Der jüngste Kreativwirtschaftsbericht spricht von «creative occupations»: Ein Game-Designer kreiert ein Spiel für einen Entertainmentkonzern, wirkt daraufhin bei einem Kunstprojekt mit und geht als nächstes eine Forschungspartnerschaft mit der Universität ein.

 

Ökonomische Wertschöpfung und künstlerischer Anspruch variieren bei diesen Beschäftigungen stark. Qualität wird zu einer Grösse, die sich einfacher Messbarkeit entzieht. Arbeit gestaltet sich fortan im Spannungsfeld zwischen persönlichen Anliegen, Nachfrage und dem Druck der Existenzsicherung. Der Schritt in die Selbstausbeutung ist ein kleiner. Das Bild des genialen Einzelkämpfers könnte trügerisch sein in einer Gesellschaft, die über Geld nicht spricht und den Erfolg stets in den Vordergrund rückt.

 

Wie also lässt sich das Potential nutzen, die Unsicherheit in gute Ideen umwandeln? Die digitale Revolution stellt hohe Anforderungen an das Bildungssystem, die Politik und das Individuum. Es bleibt eine Frage des gesellschaftspolitischen Bewusstseins, ob der Menschheitstraum zur Gelegenheit für viele wird.

 

 

Beitrag gekürzt publiziert am 22.7.2016 in der Aargauer Zeitung