Sehnsucht nach Afrika
Die beiden aktuellen Filme «Contradict» und «African Mirror» hinterfragen auf unterschiedliche Weise die Bilder, die wir uns von Afrika machen.
«Fantastisches Bild: Oft gesehen in den letzten Tagen. Oben auf den Felsen fast immer Menschen, die uns betrachten. Die verschwanden, sobald man hinschaute. Ich werde die Silhouetten oben auf dem Felskopf am gelben Abendhimmel kaum mehr vergessen. Der misstrauische, scheue Wilde, der nicht näherkommen will.»
So beginnt der Dokumentarfilm «African Mirror», der für den Schweizer Filmpreis 2020 nominiert war. Der Filmemacher Mischa Hedinger zerlegt anhand von Archivmaterial das Afrikabild, das der Reiseschriftsteller, Fotograf und Filmemacher René Gardi (1909-2000) über Jahrzehnte hinweg in der Schweiz geprägt hat.
Mit einem ganz ähnlichen Motiv beginnt auch der experimentelle Musik-Film «Contradict» von Peter Guyer und Thomas Burkhalter. Wie eine Persiflage auf Gardis schönen, nackten, edlen aber unmündigen Wilden steht in der ersten Einstellung ein junger Mann in einem städtischen Wohnquartier, irgendwo auf der Welt könnte das sein. Die muskulösen Oberarme entblösst, im schwarzen Netzshirt mit bunter Stickerei, hält er in den Armen eine Goje, eine westafrikanische Laute. Er pfeift, ahmt Vogelgezwitscher nach, blickt direkt in die Kamera.
In der nächsten Einstellung eine palmengesäumte Strasse, beleuchtet nur von den Scheinwerfern eines Taxis, das auf holpriger Strasse näherkommt. Stimme in Berndeutsch aus dem Off: «Was ist eigentlich los mit unserer Welt? Was passiert eigentlich mit uns? Wer bestimmt überhaupt, was los ist? Und wieso sagen so wenige etwas? Fällt alles auseinander? Und alles ist möglich? Wie sieht man denn das auf einem anderen Kontinent? Unsere Zeit, und uns? Wir gehen nach Ghana! Afrika sei am Kommen.»
Der Traum vom freien Leben
Afrika. Projektionsfläche für alle möglichen Sehnsüchte und Ängste. Vielen nur von Bildern in den Nachrichten, im Fernsehen oder Kino bekannt. Wahlweise steht der Kontinent für Armut, Bürgerkriege, Korruption, Naturverbundenheit, Ursprünglichkeit, für unerschöpfliche Ressourcen. Afrika fasziniert, zieht an und stösst ab. Und soll Antworten geben, einen Gegenentwurf liefern zum sogenannten Fortschritt in einer degenerierten Welt.
Wie aber soll man einen Film machen über Afrika, heute, mit all diesen Projektionen und ihren oft fatalen Konsequenzen im Hinterkopf?
«So nicht», scheint uns Mischa Hedinger mit «African Mirror» zuzurufen. «Das Schönste an einer Reise sind die menschlichen Begegnungen», zitiert er Gardi. «Besonders schön sind sie natürlich irgendwo in der afrikanischen Wildnis, irgendwo im Wald, im Busch oder in der Wüste. Denn dort leben, abseits von den Strassen, weg von den Städten, noch heute merkwürdige, absonderliche Käuze und Kerle. [...] Es sind Menschen in einer äusseren Ungebundenheit, und dieses äussere, freie Leben gibt den Menschen merkwürdigerweise auch eine unerhörte innere Freiheit. Es sind nicht Menschen, die sich immer fragen, ob sie versichert seien. Es sind Menschen, die nicht den ewigen Götzen anbeten, den Götzen unseres Zeitalters: des Lebensstandards und des Sozialprestiges.»
René Gardis Beschreibung könnte gut auch auf ein verklärtes Bild von Künstler*innen gemünzt sein. Von einer vermeintlichen Aussenseiterposition aus blicken sie auf die Gesellschaft, brechen Tabus, entwickeln Visionen, prekäre Lebensbedingungen in Kauf nehmend.
Tatsächlich lassen Burkhalter und Guyer in ihrem Film «Contradict» hauptsächlich Musiker*innen und Spoken Word-Künstler*innen aus dem alternativen Underground von Ghanas Hauptstadt Accra zu Wort kommen. Und greifen damit einen Topos auf, der in jüngster Zeit (wieder) Konjunktur feiert: Afrika als Quelle der Inspiration und Hort der Kreativität. «Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Ausstrahlungskraft Afrikas vollkommen intakt geblieben ist, und das trotz der Verwerfungen einer jüngeren Geschichte, dann ist es der Bereich der Kultur», schreibt der senegalesische Sozialwissenschaftler und Autor Felwine Sarr in seinem Buch «Afrotopia».
Generationenwechsel
In «Contradict» sammelt das Duo Fokn Bois auf den Strassen Accras Geld für Amerika, der Spoken-Word-Künstler Mutumba da Poet lässt sich als Trump verkleidet von wütenden Frauen zusammenschlagen, nachdem er eine von ihnen begrapscht hat. Die Sängerin Adomaa fordert Frauen auf, stolz auf ihre Haare und die schwarze Haut zu sein, und Rapper Akan lässt die Laien-Darsteller in seinem Video weisse Bänder von den Augen reissen: «Unsere Führer verkaufen uns im Austausch für Reichtümer, und wir folgen blind».
Die Berner Filmemacher gaben sechs Musiker*innen eine Carte Blanche: Für «Contradict» produzierten diese Songs und Videos mit ihren lokalen Crews, zu Themen, die sie umtreiben. Kontrastiert werden die Statements der Musiker*innen durch Interviews mit einflussreichen Persönlichkeiten in Ghana: dem Priester einer grossen Pfingstgemeinde etwa, der den Frauen weismachen will, sie müssten nur ein Toffee essen, um schwanger zu werden. Oder der Vize-Ministerin für Geschlechterfragen, die über die Unterschiede zwischen dem X- und Y-Chromosom referiert.
Man habe den Film bewusst multiperspektivisch gestaltet und sich in der letztgültigen Version dafür entschieden, eigene Kommentare oder Einordnungen ganz wegzulassen, erklärt Co-Regisseur Thomas Burkhalter im Gespräch: «Sonst wäre das Risiko gewesen, dass wir als weisse, mittelalterliche Männer die Welt erklärten.» So, wie es eben René Gardi tat – in Filmen und Büchern, im Westdeutschen Rundfunk mit der Sendung «René Gardi erzählt über Afrika» oder an seinen unzähligen Vorträgen.
(Post-) Koloniale Sichtweisen
Auch Mischa Hedinger verzichtet in «African Mirror» auf Erläuterungen – er lässt die Bilder und Zitate aus René Gardis Nachlass für sich sprechen. Seine Kompilation offenbart nicht nur romantisierende Vorstellungen von einem unberührten Afrika, sondern auch kolonialistische Ansichten und Fantasien. Mit dem Hinweis auf «pausenlose Geschwätzigkeit» und widersprüchliche Aussagen hatte die deutsche Filmbewertungsfirma Gardi das erhoffte Prädikat für seinen Dokumentarfilm «Mandara – Zauber der schwarzen Wildnis» (1959) verwehrt. «Das ist nun ein Urteil, das niemand begreift», war dessen Kommentar.
Zumindest in jener Schaffensphase scheint Gardi wenig offen für Selbstreflexion gewesen zu sein. Später im Film wird er mit dem bemerkenswerten Satz zitiert: «Im Grunde genommen projiziert man nur sein Inneres hinaus. Und die Aussenwelt reflektiert es wieder zurück.»
Erst in den 80er-Jahren war mit der «Krise der Repräsentation» in der Ethnologie im Zuge der Dekolonialisierung Afrikas diskutiert worden, wie man denn adäquat über andere Lebenswelten berichten sollte. Jetzt wurde eine Hinterfragung und Sichtbarmachung der eigenen Perspektive gefordert – im Bewusstsein, dass das Eigene immer den Blick auf das Andere prägt.
Jede*r Ethnograph*in, Reporter*in oder Dokumentarfilmer*in trägt eine Verantwortung für die Art und Weise, wie Menschen dargestellt werden, insbesondere, wenn der Zugang ein mehr oder weniger exklusiver ist. Zu deklarieren, wie man zu seinen Erkenntnissen kommt, einen Sachverhalt von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und vor allem die Protagonist*innen selbst zu Wort kommen zu lassen, sind oberste Maxime.
Tücken der Repräsentation
Mischa Hedinger nutzt in «African Mirror» das Stilmittel der Montage, um aufzuzeigen, wie die Komposition von Bildern auf einer unbewussten Ebene unsere Wahrnehmung steuert. Obwohl dies ein wichtiger Punkt für den postkolonialen Diskurs ist, muss auch Hedinger vorgeworfen werden, dass er selbst die Kriterien einer fairen Repräsentation nicht einhält.
Hedingers Darstellung legt ein vernichtendes Urteil über Gardi nahe; man kann bestürzt und abgestossen sein von Gardis Haltung. Der Filmemacher deklariert aber nicht, aus welchen Quellen (z.B. Tagebucheinträgen) das Material bzw. die Zitate im Einzelnen stammen und nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte. Weder Gardi noch Weggefährten haben die Möglichkeit, sich aus heutiger Sicht zu äussern. Dabei könnte man etwa hervorheben, dass Gardi mit seinem ausserordentlich grossen Interesse an traditionellem Handwerk durchaus Zeitdokumente geschaffen hat, die für nachfolgende Generationen von Bedeutung sind.
Er habe bis am Schluss nach einer Möglichkeit gesucht, einen Diskurs über das dargestellte Material in den Film einzubauen, erklärte Hedinger in einer «Kontext»-Sendung. So hat er etwa mit dem Kameruner Germanistik-Dozenten Tevodai Mambai, der selbst den von Gardi porträtierten Mafa angehört, Aufnahmen im Archiv gedreht. Letztlich habe er sich aber für eine Form entschieden, die das Publikum dazu zwinge, sich selbst zu dem zu positionieren, was es sehe und höre.
Wer vermittelt?
Wo einbettendes Wissen fehlt, sind Urteile schnell gefällt: Auch «Contradict» stellt in dieser Hinsicht einen hohen Anspruch an die Zuschauer*innen. Für ein europäisches Publikum mögen die präsentierten Aussagen und Bilder in ihrer Dichte zuweilen verwirrend sein. «Der Film muss fair und korrekt in den Details sein, aber er soll auch Emotionen auslösen und Fragen aufwerfen», sagt Burkhalter dazu. Deutungen könne man nie abschliessend steuern – wichtig sei ihm daher Ausgewogenheit: den verstörenden Bildern von der Toffee-Messe etwa emanzipierte Frauenstimmen entgegenzustellen.
Und noch einen weiteren Anspruch formuliert der Musikethnologe an seine Arbeit: «Die Protagonist*innen sollen das Ghana wiedererkennen, in dem sie leben.» Mit den Fokn Bois standen die Schweizer über mehrere Jahre im Austausch. Den Rohschnitt legten sie Poetra Asantewa vor, ihr Spoken-Word-Beitrag bildet den Abschluss des Films.
Durch die gewählte Form delegieren die Filmemacher aber auch viel Verantwortung an die Künstler*innen selbst. Diese übernehmen die Rolle der Kritiker*innen in einem lokalen Kontext und fungieren gleichzeitig als Botschafter*innen vor einem internationalen Publikum. «Fokn Bois ist ein Ort, wo ich und Wanlov hingehen», erklärt M3nsa im Film, «wo wir Dinge sagen, die die Leute denken, aber nie aussprechen. Oder die sie nicht so aussprechen, wie sie denken.» Wie bewusst spielen die Protagonist*innen dabei mit Bildern, die in Europa über ihren Kontinent vorherrschen?
Bruch mit Romantisierungen
«Contradict» zeigt das Ghana einer jungen, intelligenten und engagierten Generation, die den schmalen Grat zwischen strotzender Energie und Frustration, Veränderungswille und Resignation geht. Für ihn sei es auch ein trauriger Film, sagt Burkhalter: «Er zeigt im Kleinen das, was im Grossen heutzutage mit kreativen Menschen passiert: Sie gehen alle zwei Schritte vor und einen zurück und werden müde dabei.»
Es ist eben nicht leicht, seine innere Freiheit zu behaupten – weder in Afrika, noch anderswo. Romantisierungen wären da fehl am Platz. Immer wieder blicken wir in «Contradict» auf grosse Strassenkreuzungen oder sind selbst im Verkehrschaos unterwegs, hören Stimmen, die von Depression, Misstrauen oder Migration sprechen. Es sind globale Themen, und die Menschen in Accra sind vernetzt, ihr Horizont ist weit.
Gegen Ende des Films dann das fantastische Bild: Der Musiker Ajusiwine aus der Eingangsszene steht in der Savanne, zieht sich aus, bindet einen Lendenschutz um. Dann spielt er die Goje oben auf einem Felsen, und Wanlov von den Fokn Bois startet eine Drohne. Er zeichnet das Video für den Song «The Soundation» auf, dreht das Motiv in ein afrofuturistisches um. «Instrumente wie dieses, die keiner westlichen Tonalität folgen, befreien einen Teil des Gehirns», erklärt Wanlov. «Eine afrikanische Zukunft sollte mehr Klang sein und weniger Worte. Denn heutzutage wird viel geredet und nichts Positives passiert. Ich denke, je stiller wir werden, desto besser können wir unser inneres Selbst wieder hören und unseren Kompass finden.»