Das kulturelle Erbe wird öffentlich

Das Internet ermöglicht neue Zugänge zu Kunst und Kultur. Was bedeutet dies für Museen, Bibliotheken und Archive? An der vom Migros-Kulturprozent organisierten Tagung «Public Domain – Gratiskultur für alle?» diskutierten Experten die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung.

«It’s not just about opening up our physical collections. It’s about opening up our minds.» Es ist eine weitreichende Botschaft, die Merete Sanderhoff vom Statens Museum for Kunst (SMK), der Nationalgalerie Dänemarks, zu verkünden hat. Und wie es die englische Sprache so an sich hat, klingt das Konzept der Kuratorin nicht nur gut, sondern auch ganz einfach: Mitte des 19. Jahrhunderts vermachte das dänische Königtum seine gesamte Kunstsammlung der Öffentlichkeit. Das SMK verwaltet sie seither im Auftrag der Bevölkerung. Die Bestände gehören zum kulturellen Erbe des Landes und sollen deshalb für alle zugänglich sein, so die Überzeugung des Hauses. Also hat man sich im Jahr 2012 daran gemacht, die Gemälde zu digitalisieren und in hoher Auflösung im Internet zu veröffentlichen.

 

Wie die Werke der königlichen Sammlung Dänemarks zählen weltweit alle geistigen Schöpfungen eines Landes – von Malereien über Kompositionen bis hin zu Romanen und wissenschaftlichen Aufsätzen – zur sogenannten Public Domain, wenn ihre Urheberrechte erloschen sind. In der Schweiz ist dies 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers der Fall. Es ist eine noch junge Entwicklung, dass Museen, Bibliotheken und Archive die Möglichkeit haben, ihre Bestände zu digitalisieren. Doch wie ist mit den Daten aus rechtlicher, technologischer und kulturpolitischer Sicht umzugehen? Das Migros-Kulturprozent ortete einen grossen Diskussions- und Informationsbedarf – und lag damit goldrichtig: Im Nu waren die Plätze zur Tagung «Public Domain – Gratiskultur für alle?» im Haus der elektronischen Künste Basel ausverkauft.

 

Ende eines Monopols

Aus Sicht des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Ullrich sind die Gedächtnisinstitutionen – auf Englisch GLAM für Galleries, Libraries, Archives, Museums – mit einem Paradigmenwechsel konfrontiert. In sozialen Netzwerken sind visuelle Inhalte zum primären Kommunikationsmittel geworden. «Dadurch haben wir es erstmals in der Geschichte der Bilder mit einer Egalisierung aller Inhalte zu tun», sagt Ullrich. Auf Tumblr kuratieren Blogger ihre ganz persönliche Bild-Auswahl: Neben der Reproduktion eines Warhols steht das Werk einer befreundeten Kunststudentin oder eine Fotografie vom Strand. Dieser Entwicklung können sich auch Institutionen nicht verschliessen, die bisher die Hoheit über die Kontextualisierung und den Umgang mit Kunstwerken hatten. Museen erproben in ihrer Vermittlungsarbeit deshalb neue Wege. Sie öffnen ihre Exponate zunehmend der virtuellen Welt. Und plötzlich erscheint Monet im Hintergrund eines Selfies vom Museumsbesuch.

 

Fotografieren im Museum erwünscht – das kommt der Erlaubnis gleich, in der Kirche zu klatschen, wie Dominik Landwehr, Projektleiter Neue Medien beim Migros-Kulturprozent, kommentiert. «Museen sind Bildungsinstitutionen», sagt dazu Merete Sanderhoff, «doch wir sehen uns nicht als höchste Wissensinstanz.» Es entspricht modernen pädagogischen Erkenntnissen, dass nicht die Predigt, sondern die Interaktion am stärksten zum Lernen motiviert. Also hat das SMK die Bevölkerung dazu eingeladen, sich aktiv mit seiner Sammlung auseinanderzusetzen. Im Rahmen eines Projekts etwa haben junge Menschen digitalisierte Bilder ausgedruckt, zerschnitten und zu meterlangen Collagen verarbeitet. Heute sind sie entlang von Baustellen in ganz Kopenhagen zu bewundern. «Kunst kann zum Allgemeinwohl beitragen, wenn wir sie loslassen», meint Sanderhoff.

 

In der Schweiz noch in den Kinderschuhen

Dass eine staatliche Institution die breite Öffentlichkeit zu einer Neu-Interpretation des kulturellen Erbes auffordert, räumt auf mit der Vorstellung, dass Kunst einem Expertenpublikum vorbehalten und dem Original stets mit Ehrfurcht zu begegnen sei. In der Schweiz hat die Nationalbibliothek (NB) Schritte in die gleiche Richtung unternommen: Im Februar hat sie den ersten Cultural Hackathon beherbergt, bei dem sich Computer-Freaks der Frage widmeten, was sich mit gemeinfreien Daten alles anstellen lässt.

 

Für die meisten Schweizer Gedächtnisinstitutionen ist der Gedanke an eine unbeschränkte Zugänglichkeit und Verwendung ihrer digitalisierten Inhalte aber noch neu. Zumal sie sich zunächst mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie ihre Sammlung überhaupt erschlossen und verfügbar gemacht werden kann. An der Public Domain-Tagung in Basel sind es mehrheitlich Mitarbeitende von Kulturabteilungen, Archiven und Bibliotheken mit öffentlichem Auftrag sowie Juristinnen und Wissenschaftler, die sich dafür interessieren. Kleinere Institutionen können sich grossangelegte Digitalisierungsprojekte oft gar nicht leisten. Private Stiftungen, Verlage oder Nachlassverwalter wiederum fürchten ein Wegbrechen ihrer Einnahmen.

 

Zusammenarbeit mit bestehenden Plattformen

Doch selbst wer der digitalen Entwicklung grundsätzlich offen gegenübersteht, kann nicht von heute auf morgen darauf reagieren: Die Digitalisierung grosser und alter Bestände erfordert nicht nur ein beachtliches Fachwissen, sondern auch einen hohen Einsatz an Ressourcen. Riesige Datenmengen müssen langfristig gespeichert und ins Internet geladen werden. Und der ganze Aufwand lohnt sich nur, wenn die zur Verfügung gestellten Werke von der Öffentlichkeit auch wahrgenommen werden. Aus diesem Grund hat sich die Schweizerische Nationalbibliothek für eine Zusammenarbeit mit Wikimedia Commons entschieden. Rund 3300 Fotografien und Malereien hat sie bisher auf der Multimedia-Plattform veröffentlicht. «Jede Informationssuche beginnt heutzutage bei der Suchmaschine oder auf Wikipedia – und häufig hört sie dort auch auf», erklärt Matthias Nepfer, verantwortlich für Innovation und Informationsmanagement bei der NB. «Also müssen wir auf diesen Plattformen präsent sein.»

 

Mit den Inhalten zu den Benutzern zu gehen – diesen Weg hat auch die Zentralbibliothek Solothurn gewählt. Mit Erfolg: Während die digitalisierte Grafiksammlung auf der eigenen Website rund 1500 Zugriffe pro Monat zählte, konnte Wikimedia Commons 96'000 Zugriffe darauf verzeichnen. «Wir erhalten mehr qualifizierte Anfragen», zieht Verena Bider von der ZB Solothurn Bilanz. Wer ein Bild in hoher Auflösung sucht, kann es sich heute eigenständig beschaffen und kontaktiert die Experten allenfalls noch für Zusatzinformationen. Angst vor einem Kontrollverlust hat Bider nicht: «Wer wissenschaftlich arbeitet, wird den Weg zurück zum Original finden.»

 

Leuchttürme im Datenmeer

Dass Wissensinstitutionen gerade angesichts der digitalen Entwicklung relevant bleiben, glaubt auch Edith Krebs, Redaktionsleiterin des SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz. «Im Internet findet man alles Mögliche, aber man weiss oft nicht, wie vertrauenswürdig eine Quelle ist. Da sind Instanzen gefragt, die Wissen einordnen und verifizieren können». GLAM, die ihre Bestände in hoher Qualität im Internet anbieten, können sich so als wichtige Referenz im Bezug auf die zur Verfügung gestellten Inhalte positionieren.

 

Gleichzeitig müssen sie sich von der Idee verabschieden, dass ein physischer Besucher zwingend mehr wert ist als ein virtueller Nutzer. «Museen brauchen neue Businessmodelle», sagt Merete Sanderhoff, und gibt zwei Aspekte zu Bedenken: Wer hochaufgelöste Reproduktionen online stellt, spart erhebliche Kosten für den administrativen Aufwand zur Gebühreneintreibung. Und macht sich zudem für neue Geldgeber interessant: Vorreiter der OpenGLAM-Bewegung wie das Rijksmuseum in Amsterdam werden von Sponsoring-Angeboten nur so überhäuft.

 

«Ich will nicht, dass unsere Sammlung in der Bilderflut untergeht», sagt Merete Sanderhoff. «Ich will zuoberst mitschwimmen auf der Welle.» Etwas ketzerischer formuliert es Taco Dibbits, Sammlungschef am niederländischen Rijksmuseum: «Wenn die schon einen Vermeer auf ihrem Toilettenpapier haben wollen, dann ist es mir lieber, sie nehmen einen qualitativ hochwertigen Vermeer als eine wirklich schlechte Reproduktion.» Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass aus der Public Domain sogar spannendere Dinge hervorgehen als bedrucktes Toilettenpapier.

 

 

Publiziert im April 2015 im Online-Magazin von Migros-Kulturprozent (nicht mehr abrufbar)